Humanismus als Haltung im Wertewandel

Es gibt Zeiten, die fordern uns, als Gesellschaft, als Einzelne, als Demokrat:innen. Wir leben in einer Phase multipler Erschütterungen: gesellschaftlich, geopolitisch, ökologisch. Der Ton wird rauer, Debatten verlieren an Tiefe, Worte spalten häufiger, als dass sie verbinden. Immer öfter erleben wir, wie Komplexität durch Parolen ersetzt wird, wie autoritäre Gesten als Entschlossenheit verkauft werden – und wie Sprache zu einem Instrument der Verrohung wird.
In solchen Momenten stellt sich die Frage: Was hält uns? Was trägt uns persönlich wie gesellschaftlich? Wenn ich eines aus meinem beruflichen Weg als Journalistin, Politikwissenschaftlerin und Unternehmerin gelernt habe, dann ist es dies: Demokratien überstehen Krisen nicht durch Lautstärke, sondern durch Haltung. Haltung zeigt sich im Umgang mit Widerspruch. Sie beginnt in der Sprache, die nicht eskaliert, sondern Perspektiven öffnet – für ein gemeinsames Morgen.
Wenn zunehmend auch in Deutschland Parolen salonfähig werden, autoritäre Gesten als Tatkraft gelten, wenn Sprache verroht, dann müssen wir uns fragen, auf welchem Wertefundament wir stehen. Ich finde meine Ressource, meine Orientierung und Kraft in der Idee eines modernen Humanismus – ein Wertekompass, dem als unverrückbare Basis die Würde jedes Menschen zugrunde liegt. Und der uns leiten kann, wenn Debatten hitzig werden, beispielsweise im Umgang mit emotional stark besetzten Themen wie Migration, Vielfalt, Chancengleichheit oder technologischer Veränderung.
Der moderne Humanismus erinnert uns daran, dass uns trotz aller nationalen und globalen Herausforderungen mehr verbindet als trennt. Modern ist dieser Humanismus, weil er mehr ist als ein Bildungsideal vergangener Jahrhunderte. Er bedeutet heute: Verantwortung für das System zu übernehmen, in dem wir leben und arbeiten. Er erinnert uns daran, dass Demokratie kein Konsumgut ist und gesellschaftliches Miteinander keine Dienstleistung, die jederzeit passgenau liefern muss. Wer in einer komplexen, vielfältigen Gesellschaft lebt, kann nicht erwarten, dass jede Facette auf den eigenen Vorteil ausgerichtet ist. Und nicht immer sind „die anderen“ schuld, wenn uns etwas fehlt.
Um besser zu diskutieren, welche Kraftquelle der Humanismus sein kann, lohnt sich ein Blick auf seine Wurzeln und Wandlungen. Der Humanismus ist keine statische Idee, sondern eine Bewegung, die sich mit der Gesellschaft weiterentwickelt hat. In vier Phasen lässt sich in meinen Augen gut nachvollziehen, wie sich das Verständnis des Menschen von der Antike bis in die Gegenwart verändert hat und welche Impulse daraus für unser heutiges Denken und Handeln entstehen können. Diese Idee zur Reflexion möchte ich meinen Leser:innen als Einladung mitgeben: Um innezuhalten, nachzudenken und eine mögliche Ressource zu entdecken, die Parolen standhält.
Aktuelle Relevanz humanistischer Werte im 21. Jahrhundert
1. Der Ursprung des Humanismus – Die Wiederentdeckung des Menschen
Der Humanismus ist eine geistige Bewegung, die den Menschen in den Mittelpunkt des Denkens stellt. Seine Wurzeln reichen bis in die italienische Renaissance des 14. Jahrhunderts zurück. Gelehrte wie Francesco Petrarca, Erasmus von Rotterdam und Giovanni Pico della Mirandola entdeckten in den Schriften der Antike ein neues Menschenbild: Der Mensch ist nicht bloß ein Geschöpf Gottes, sondern ein autonomes, vernunftbegabtes Wesen, das sich durch Bildung, Kunst und Erkenntnis selbst formt.
Diese Epoche markiert die Geburt des modernen Individualismus. Humanitas bedeutete, das eigene Potenzial zu entfalten. Ein Gedanke, der heute in der Persönlichkeitsentwicklung, im Bildungsverständnis und in modernen Führungsmodellen weiterlebt.
Leitgedanke: Der Mensch als selbstbestimmtes und schöpferisches Individuum.
Aktuelle Relevanz: Selbstwirksamkeit, lebenslanges Lernen, kreative Entfaltung.
2. Der Humanismus der Aufklärung – Freiheit und Vernunft als Maßstab
Im 17. und 18. Jahrhundert wandelt sich der Humanismus zur philosophischen Bewegung der Aufklärung. Mit Denker:innen wie Immanuel Kant, Voltaire und Jean-Jacques Rousseau wird der Mensch als vernunftgeleitetes, moralisch verantwortliches Subjekt verstanden.
Der Fokus liegt nun auf Emanzipation, es geht um die Befreiung von Unmündigkeit, Aberglauben und Fremdbestimmung. Diese Zeit prägt bis heute unsere demokratischen und rechtsstaatlichen Grundprinzipien: Menschenrechte, Toleranz, Gleichheit und Bildung.
Leitgedanke: Vernunft und Freiheit als Grundlage für Fortschritt und Gerechtigkeit.
Aktuelle Relevanz: Ethik in Wissenschaft, Wirtschaft und Technologie sowie Bildung als Schlüssel zur Teilhabe.
3. Moderner Humanismus – Solidarität und soziale Verantwortung
Die Industrialisierung und die politischen Umbrüche des 19. und 20. Jahrhunderts stellten die humanistische Idee vor neue Herausforderungen. Philosophen wie Karl Marx, Albert Schweitzer, Hannah Arendt oder Erich Fromm betonten, dass der Mensch nicht isoliert existiert, sondern immer in sozialen, ökonomischen und politischen Zusammenhängen steht.
Der neuere Humanismus fordert daher Solidarität und Mitmenschlichkeit, besonders angesichts der Erfahrung zweier Weltkriege, sozialer Ungleichheit und technischer Entfremdung. Nach 1945 wird die Idee des Humanismus in die Form universeller Menschenrechte gegossen: Die Würde des Menschen ist unantastbar.
Leitgedanke: Der Mensch als soziales Wesen, mit Würde durch Gemeinschaft und Gerechtigkeit.
Aktuelle Relevanz: Corporate Social Responsibility, Diversity, soziale Innovation.
4. Zeitgenössischer Humanismus – Verantwortung in der globalen Gesellschaft
Im 21. Jahrhundert steht der Humanismus erneut vor einer Transformation. Globalisierung, Digitalisierung, Klimawandel und künstliche Intelligenz fordern ein erweitertes Verständnis des Menschseins. Der Mensch ist nicht mehr nur Individuum oder soziales Wesen, sondern er ist Teil eines globalen und ökologischen Netzwerks.
Der moderne Humanismus der Gegenwart verbindet individuelle Selbstverwirklichung mit gesellschaftlicher und planetarer Verantwortung. Begriffe wie ökologischer Humanismus, digitaler Humanismus oder Humanismus der Verantwortung können diesen Paradigmenwechsel ebenfalls beschreiben.
In Wirtschaft und Unternehmertum bedeutet das: DEr Erfolg bemisst sich nicht mehr allein an Profit, sondern an Wirkung, Sinn und Verantwortung. Unternehmer:innen werden zu Gestalter:innen gesellschaftlicher Transformation mit dem Ziel, Chancengleichheit, Nachhaltigkeit und Menschlichkeit in Einklang zu bringen.
Leitgedanke: Humanismus als Haltung der Verantwortung, für Menschen, Systeme und Zukunft.
Aktuelle Relevanz: Nachhaltiges Leadership, Ethik der KI, soziale Innovation, inklusives Unternehmertum.
Humanismus als Führungsprinzip: Eine Brücke denken zwischen Philosophie und Unternehmertum
Und jetzt? Kein Impulsvortrag, keine Keynote könnte so enden. Was also lässt herausziehen für Strategen in einer Arbeitswelt voller Herausforderungen, in einer Zeit, in der demokratische Werte in ihrer Bedeutung von zu vielen Menschen infrage gestellt werden?
Für Unternehmer:innen, die sich auf humanistische Werte berufen (dort sehe ich mich selbst angesiedelt), können meine Gedankengänge in diesen Punkten einen Orientierungsrahmen bieten:
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Selbstbestimmung: Förderung individueller Potenziale.
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Vernunft und Ethik: Entscheidungen auf Basis von Wissen, Transparenz und Fairness.
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Solidarität: Verantwortung gegenüber Mitarbeitenden, Kund:innen und Gesellschaft.
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Nachhaltigkeit und Teilhabe: Beitrag zu einer gerechten, resilienten Zukunft.
So verstanden wird Humanismus zu einem unternehmerischen Mindset, das Sinn stiftet, Vertrauen fördert und Wandel ermöglicht. Eine humanistische Unternehmenskultur verbindet wirtschaftlichen Erfolg mit sozialer Innovation. Sie stellt die Frage:
Wie können wir als Menschen wirken, ohne das Menschliche zu verlieren?
So gesehen hat sich der Humanismus von einer kulturellen Erneuerungsbewegung zu einem ethischen Leitprinzip für das 21. Jahrhundert entwickelt.
In einer Zeit, in der Technologie, Ökonomie und Gesellschaft immer stärker ineinandergreifen, braucht es Unternehmer:innen, die humanistische Werte als strategische Ressource begreifen – als Fundament für Vertrauen, Kreativität und Verantwortung.
Humanismus als ethischer Kompass für Wirtschaft und Gesellschaft
Doch die Relevanz des Humanismus geht weit über die Arbeitswelt hinaus. Gerade in demokratischen Gesellschaften, die von Vielfalt, Dialog und Mitgestaltung leben, bildet der Humanismus den gemeinsamen Boden, auf dem Freiheit, Würde und Solidarität gedeihen können. Er erinnert uns daran, dass Demokratie nicht nur ein politisches System ist, sondern eine Haltung: die Bereitschaft, dem Anderen mit Respekt zu begegnen, Verantwortung zu teilen und Unterschiede als Bereicherung zu verstehen.
Gleichzeitig fordert ein zeitgemäßer Humanismus auch ein neues Verständnis von Wachstum und Wohlstand. Reines wirtschaftliches Wachstum kann nicht länger das alleinige Ziel einer Gesellschaft sein. Im Zentrum steht heute die Frage, wie sich ökonomische Entwicklung mit dem Erhalt unserer Lebenswelt, sozialer Gerechtigkeit und ökologischer Nachhaltigkeit verbinden lässt. Wirtschaftliches Handeln wird damit zu einem Beitrag für die Zukunftsfähigkeit des Planeten – nicht zu Lasten, sondern im Einklang mit Mensch und Natur.
Humanismus heute bedeutet also in diesem Verständnis trotz wirtschaftlich herausfordernder Zeiten, den Menschen (nicht Wachstum) ganz bewusst in den Mittelpunkt zu stellen. Nicht gegen die Technik, sondern mit Bewusstsein, Empathie und Verantwortung in einer vernetzten Welt. Er ist damit gleichermaßen ein ethischer Kompass für gesellschaftliches Zusammenleben und ein kulturelles Zukunftsversprechen, das Demokratie, Nachhaltigkeit und Menschlichkeit miteinander verbindet.
„Seid Menschen!“
Vor allem mit diesem unmissverständlichen Appell wird die im vergangenen Mai verstorbene Holocaust-Zeitzeugin Margot Friedländer in Erinnerung bleiben. Die Berlinerin setze sich bis zu ihrem Tod mit 103 Jahren für Verständigung ein und teilte ihre persönlichen Erfahrungen während der NS-Diktatur. Sie sah die Rückkehr rechten Gedankengutes als Gefahr für Deutschland und Europa. Die Brandmauer als Lehre aus der NS-Diktatur hielt sie für essenziell, ebenso wie den Erhalt einer lebendigen Erinnerungskultur und zusätzliche Angebote politischer Bildung. Übrigens für alle Generationen, nicht nur Schüler:innen. Friedländer sprach regelmäßig in der Öffentlichkeit und erhielt für ihren Einsatz unter anderem einen Bambi in der Kategorie „Mut“ sowie das Große Bundesverdienstkreuz.
Engagement für ein verbindendes Gemeinwohl helfen uns allen. „Role Models“ wie Friedländer können uns aufrütteln und inspirieren, selbst tätig zu werden. Möglichkeiten Direkter Demokratie gibt es zuhauf, zudem bietet sich die Mitarbeit in Vereinen wie ZO-ON an. Was Jede oder Jeder tun kann: Bereitschaft zeigen, sich offen hinter Minderheiten zu stellen. Zum Beispiel als Ally für queere, benachteiligte oder geflüchtete Menschen. Sichtbar Haltung zeigen gegen Ausgrenzung, für mehr Menschlichkeit und Vielfalt.
Ein moderner Humanismus rückt die Würde eines jeden Menschen ins Zentrum im Kontext mit globaler Verantwortung, digitaler Transformation und demokratischer Resilienz.
Einen Gastkommentar hierzu nachlesen im Blog von ZO-ON